Just go with the flow, baby!

Heute wage ich mich an ein viel diskutiertes und sensibles Thema heran: die Erziehung. Nicht nur als Eltern, sondern auch in den alltäglichen Situationen des Lebens wie im Supermarkt oder im Wartezimmer beim Arzt kommen wir damit in Berührung. Das Thema ist vor allem daher so brisant, da es so emotionsgeladen ist: Alle Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind und jeder kann etwas dazu sagen. Immerhin sind wir ja mindestens in unserer eigenen Kindheit damit in Kontakt gekommen. Meiner Meinung nach gibt es auch nicht die eine gute Erziehung. Erziehung ist so vielfältig wie Eltern und Kinder verschieden sind.

Heute teile ich meine Erfahrungen zum Lernen. Ich schreibe darüber wie wir M. die idealen Bedingungen schaffen möchten, damit er sich frei entwickeln und entfalten kann. Mein Weg ist sicherlich nicht der einzige und einzig Richtige. Wie mit allen Dingen im Leben, so führen immer mehrere Wege nach Rom. 

Lese einfach selbst! 

Kind im Flow

Wenn mein Sohn ganz ruhig wird, er wie gebannt auf den Gegenstand in seinen Händen starrt und ich seine ganz besondere Atmung höre (ja, wirklich!!)… dann weiß ich, dass M. im Flow ist. Wir alle kennen dieses Gefühl, wenn wir uns wie selbstvergessen einer Sache zuwenden. Dabei so vertieft sind, dass wir Zeit und Umgebung vergessen. Natürliche Bedürfnisse wie Hunger, Durst und Müdigkeit nicht spüren, sondern uns dieser Tätigkeit voll und ganz hingeben. 

Ich kenne das Flow- Gefühl vor allem vom Laufen. Dann bin ich so sehr in meinen Podcast oder meine Gedanken versunken, dass ich entgegenkommende Spaziergänger nicht mehr wahrnehme. Die Strecke laufe ich dann wie im Autopilot. Dasselbe passiert mir beim Lesen von wirklich guten Büchern und beim Stöbern in alten Fotos.

Während wir Erwachsenen immer seltener in einen Flow kommen, haben Kinder durchschnittlich 20- 50 Mal am Tag ein Flow- Erleben. 

Flow? Was bedeutet das?

In der Psychologie bezeichnet der Begriff „Flow“ das selbstvergessene Beschäftigen mit einer Sache. Dabei ist man damit so sehr im Einklang, dass es man alles um sich herum vergisst. Voll und ganz auf diese eine Aufgabe konzentriert, ist man von Glücksgefühlen erfüllt und nimmt dabei seine Umwelt nicht mehr wahr. 

Die Flow-Theorie von Csikszentmihalyi

Flow entsteht vor allem da, wo wir das Maximum an intrinsischer Motivation aufgebracht wird. Dabei entstehen viele positive Emotionen. Diese bewirken, dass die Aufgabe als erfüllend bewertet wird und das Außen in Vergessenheit gerät. Wie das Modell oben veranschaulicht, ist es ideal, wenn das Anspruchsniveau einer Aufgabe und die Fähigkeiten einer Person so übereinstimmen, dass diese sie als herausfordernd, aber nicht überfordernd erlebt.

Lernen auf dem Spielplatz

Sonntagnachmittag im Sommer. Auf unserem Lieblingsspielplatz ist kaum etwas los. Während sich M. in den Sandkasten zu einer Mutter und ihrem ein bis zwei Jahre älteren Sohn gesellt, sitze ich unweit entfernt auf einem Stein. Ich beobachte die Situation. So machen wir es eigentlich meistens: M. bewegt sich weitestgehend frei auf dem Spielplatz. Ich halte mich im Hintergrund und habe ihn im Blick. Wenn er meine Hilfe benötigt, gehe ich dazu. Er liebt es, in Kontakt mit anderen Kindern zu kommen, Snacks abzustauben und seine eigenen zu teilen. Er har wenig Berührungsängste, geht auf andere offen zu.

Zurück zur Situation: 

So sitzen die drei mit Förmchen, Schaufeln und einem Eimer im Sand. Dass sich M. an dem Sandspielzeug des Jungen bedient, ärgert diesen. Alles, was er in die Hand nimmt, möchte er zurück und für sich haben. M. gibt es ihm jedes Mal zwar direkt zurück, beschlagnahmt aber sofort ein Neues. Das Spiel geht von vorn los. Die Mutter versucht ihren Sohn zu besänftigen und zum Teilen zu ermutigen. Doch dieser bleib stur. 

Zunehmend spüre ich wie es ihr nicht behagt, dass M. dabei sitzt und sie sich immer wieder dazu genötigt fühlt, einzugreifen. Wut scheint in ihr aufzusteigen. Ich nehme M. zur Seite. Wir gehen sein Sandspielzeug aus dem Kinderwagen holen. 

Als wir zurückkommen, hat sich ihr Sohn zwar beruhigt. Doch nun ist die Mutter sauer. Sie wirft mir vor, dass ich mich zu passiv verhalte. Dass ich nur dabei sitze, während sie sich mit meinem Kind beschäftige und zwischen den Kindern interveniere.

Um die Situation zu entschärfen, gehe ich mit M. an einen anderen Ort weiterspielen. Ich verspüre den innerlichen Druck, mich direkt daneben setzen zu müssen. Ich merke wie mich die Mutter aus der Entfernung abschätzig beobachtet.

Lockere oder strammere Leine?

Ich begann darüber nachzudenken, ob meine Herangehensweise an den Spielplatzbesuch und M. Spiel im Allgemeinen die Richtige ist. War meine „Leine“ zu locker? Hatte die andere Mutter Recht? Meistens ging es gut. Einmal ist M. ausgebüchst. Er wurde von einem fremden Vater auf dem Bürgersteig eingefangen und mir mit den Worten übergeben, dass ich wohl besser aufpassen sollte. Eine Sekunde abgelenkt und direkt die Quittung dafür bekommen.

Auch bei den nächsten Besuchen auf dem Spielplatz ließ mich die Frage nicht los. Wie machen es andere Eltern? Ich begann deren Verhalten zu beobachten und stellte fest, dass es zwei Gruppe von Eltern zu geben schien: Gruppe 1 war in das Geschehen auf dem Spielplatz involviert: Sie hielt sich nah am Kind, schaukelte, rutschte, ermutigte das Kind neue Erfahrungen zu machen und war sofort zur Stelle, wenn es zu fallen drohte. Sie hatte Geduld und keine Scheu, sich schmutzig zu machen. Gruppe 2 hielt sich eher am Rand des Spielplatzes: plauderte ein bisschen mit anderen Müttern, beobachtete und ließ das Kind selbstständig den Spielplatz erobern.  

Zwei verschiedene Herangehensweisen, die beide ihre Daseinsberechtigung haben. Eltern der Gruppe 1 leiten das Spiel des Kindes an. Eltern der Gruppe 2 ließen ihr Kind eher machen, ihrer eigenen Wege nachgehen und ihr eigenes Spiel finden.

Das Spielzeug- Experiment

Zufälligerweise war in dieser Zeit in einem Podcast, den ich hörte, die Rede von einem Experiment mit zwei Gruppen von Kindern und einem Spielzeug. Es war so aufgebaut, dass manche Kinder erst mit dem Spielzeug spielen durfte, nachdem dessen Funktionen von einem Erwachsenen erklärt wurde. Die Vergleichsgruppe an Kindern konnte sofort ohne Erklärungen loslegen. 

Das Ergebnis überraschte: Kinder der ersten Gruppe legten das Spielzeug schon nach kurzer Zeit wieder aus der Hand. Sie hatten schlichtweg nur das ausprobiert, was ihnen die Erwachsenen gezeigt hatten. Ihnen war es schnell langweilig geworden. Die Kinder der Vergleichsgruppe hingegen beschäftigten sich deutlich länger mit dem Spielzeug. Sie fanden alle Funktionen heraus, die den anderen Kindern in der Einführung gezeigt wurden. Sie hatten Spaß daran, es individuell zu erforschen und zu entdecken.

Flow auf dem Spielplatz?

Das Experiment holte mich vor allem deshalb so ab, da es meine eigenen Erfahrungen unterstützt: Wenn M. den Spielplatz sieht und ich ihn in seinem Kinderwagen abgeschnalle, pest er los ohne noch einmal einen Blick nach hinten zu werfen. Er stürmt auf das nächstgelegenen Klettergerüst oder zu den anderen Kindern. Selbstvergessen vertieft er sich dann in sein Spiel. Mit den Eisförmchen spielt er Eisladen oder kocht Nudeln in dem Eimer. Das alles tut er ohne, dass ich es ihm bewusst gezeigt hätte. Genau so wie er es mal bei mir oder andere Familienmitgliedern gesehen zu haben scheint, macht er es einfach nach. M. ist so sehr in sein Spiel vertieft, dass ich ihm manchmal erst wieder nach einer viertel Stunde einfalle. Dann ruft er nach mir, um angeschaukelt zu werden oder um mir einen Stein zu zeigen, den er gefunden hat.

M. ist in dieser Zeit im Flow. Er ist so sehr in seine Spielsituation vertieft, dass er mich gar nicht braucht. Dass ich ihn vielleicht sogar stören würde. 

Denn:

Zu keinem anderen Zeitpunkt im Leben lernen wir effektiver und leichter als durch ein Flow- Erleben. Durch das selbstständige Entdecken und Erforschen der Umwelt werden viele neue neuronale Verbindungen im kindlichen Gehirn gebaut. Dabei werden Hormone ausgeschüttet, die glücklich machen und diese Tätigkeit als etwas Positives abspeichern. Nicht, weil eine besondere Leistung erbracht wurde oder aufgrund von Lob oder Anerkennung von Seiten der Eltern. Sondern einfach und allein durch das Erfahren der Lust am eigenständigen Entdecken und Gestalten. 

Das Foto ist in Australien auf unserer Elternzeitreise entstanden. M. war ganz versessen auf die leeren Bierdosen, die hier in Dosenkühlern stecken. Erst hatte ich Sorge, dass er sich an der scharfen Öffnung schneiden könnte und habe sie ihm weggenommen. Er hat alle Kräfte investiert, um sie zurück zu bekommen. Zuerst bin ich hart geblieben, dann habe ich mich dazu entschieden, seine Forscherlust nicht einzudämmen. Ihn stattdessen die Dosen entdecken zu lassen – solange ich ein Auge darauf habe.

Wie können wir unsere Kinder dabei unterstützen?

Für uns Eltern bedeutet dies, dass wir unsere Kinder genau dann am besten fördern, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst zu erfahren und in den Zustand des Flow- Erlebens zu kommen. Wir als Eltern schaffen dabei die Grundlage durch eine sichere Bindung zwischen uns und unserem Kind. Indem wir ihm signalisieren, dass wir da sind, wenn es uns braucht. Dass wir helfen, wenn es nötig ist. Dass wir trösten, wenn es mal schief geht. Kinder, die sich selbst erleben dürfen, lernen nicht nur schneller und tiefer. Sie bekommen auch die Möglichkeit, sich als ein Mensch zu erleben, der sich dabei wohl fühlt, wenn er etwas geschafft hat. Jemand zu sein, der freiwillig und mit Begeisterung lernt. Herausforderungen nicht mit Angst begegnet. Stattdessen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu haben. Indem wir unsere Kinder sich selbst erleben lassen, stärken wir auch ihre Frustrationstoleranz. Die Fähigkeit, Enttäuschungen zu ertragen und sie konstruktiv zu nutzen.

Im Alltag lernen: 

  1. Wenn ich sehe, dass M. im „Flow“ ist, unterbreche ich ihn nicht. Stattdessen lasse ich ihn so lange seine Aufmerksamkeit auf die eine Sache richten wie es für ihn richtig ist (sofern es die Situation hergibt).
  2. Unsere Wohnung ist mittlerweile so kindersicher, dass M. fast alles anfassen und haben kann. Als er anfing, die Schränke und Schubladen öffnen zu können, fiel mir eines Tages auf wie oft ich „nein“ zu ihm sagte. Ein “Nein” endete fast immer in seinem Weinen. M. konnte zu diesem Zeitpunkt nicht verstehen, warum er die eine Schublade öffnen durfte, während die andere zu bleiben musste. Für Martin und mich war das der Zeitpunkt, unsere Wohnung so zu organisieren, dass sie komplett kindersicher ist. Putzmittel ausser Reichweite bringen, zerbrechliche Deko wegräumen, sensible Schubladen sichern. Unsere Schränke sind nun meist chaotisch. Das haben wir für den Moment akzeptiert. Auch ist einiges an Geschirr zu Bruch gegangen, als M. wochenlang Spaß daran hatte, den Esstisch zu decken.  Da es keine besonderen Teile waren, ist es ok. Eine Zeit lang mussten wir ständig hinterher saugen, da er es liebte, mit unsere Teebeuteln zu spielen. Tee zu „kochen“ und die Beutel zu zerrupfen.  Auch darf M.„gefährliche“ Gegenstände wie eine Schere oder einen Hammer erforschen. Dann setzen wir uns allerdings direkt daneben und lassen ihn nur kontrolliert damit spielen.
  3. Auf dem Spielplatz darf er überall hochklettern, wo er es sich selbst zutraut. An wirklich hohen Klettergerüsten geben wir ihm Hilfestellung. M. kann sich immer besser einschätzen und ruft uns mittlerweile, wenn er unsere Unterstützung braucht. Wenn er fällt, dann fällt er fast immer gut ohne sich dabei sehr weh zutun.
  4. M. darf mit Essen matschen. Zumindest in den eigenen vier Wänden und auch dann, wenn es für uns mehr nervige Putzarbeiten bedeutet. Er macht das nicht, um uns zu „ärgern“, sondern um die Beschaffenheit von Lebensmittel zu erforschen.
  5. Dasselbe gilt für jeden vermeintlich anderen „Unfug“: Kinder im Kleinkindalter tun das nicht, um Blödsinn zu machen, sondern da sie gerade aktiv etwas lernen. Natürlich gibt es auch hier Grenzen.
  6. Wenn es unser Zeitplan hergibt, lasse ich M. trödeln. Beispielsweise habe ich schon eine halbe Ewigkeiten in unserem Hinterhof verbracht, wo ich eigentlich nur den Kinderwagen abstellen wollte. M. hat dabei Handfeger und Kehrblech entdeckt und erst einmal richtig sauber gemacht.
Wochen und Monate lang war die Küche M. Lieblingsort. Jede Schublade und jeder Schrank wurde ausgeräumt und alles getestet. Anfangs habe ich immer wieder hinterher geräumt. bis ich das Durcheinander in den Schubladen einfach akzeptiert habe. Mittlerweile ist die Phase vorbei und es ist wieder Ordnung eingekehrt.

Fazit 

Ich bin überzeugt, dass Lernen nicht immer eine Anleitung durch uns Eltern erfordert.  Indem wir unseren Kindern in einem sicheren Rahmen, die Möglichkeit geben, seinen Interessen und Bedürfnissen nachzugehen, findet Lernen immer statt. In alltäglichen Situationen, in der Natur und im Hier und Jetzt. Kinder in ihrem Lernen zu fördern bedeutet für mich genau zu beobachten, sie da abzuholen, wo sie stehen und ihnen das zu geben, was sie gerade brauchen.

Kurzer Tipp:

Wenn du dich für das Thema interessierst, empfehle ich dir die Homepage „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ von Katja und Katja. Hier schreiben sie wie ich finde sehr verständlich und lesenswert über das Thema. 

Hinterlasse mir gerne einen Kommentar und ein Feedback zu meinem Artikel. Ich wünsche dir eine wundervolle Woche! Deine Lilly 

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